Eine medizinische Sicht auf die Lockerung

Nach mehrwöchigem «Lockdown» scheint die Einsicht auch beim Bundesrat zu reifen, dass eine Lockerung der Massnahmen unumgänglich ist. Aus medizinischer Sicht sollten dabei folgende Aspekte dringend berücksichtigt werden:

1. Corona-Todesfälle brauchen Autopsie: Die Anzahl der offiziell gemeldeten Corona bedingten Todesfälle sind zu hoch. Derzeit wird jeder positiv Getestete beim Ableben als «Corona-Toter» gezählt, ohne zu differenzieren, ob eine Kausalität gegeben ist oder nicht. Dabei wird geflissentlich ausgeblendet, dass gerade ältere Menschen mit oder ohne Corona-Infektion an Herzinfarkten, Schlaganfällen, Krebs etc. oder auch natürlich versterben. Dasselbe trifft auch für Menschen mit Vorerkrankungen zu. Potenziert wird das Problem durch den Umstand, dass bei Corona-Patienten kaum Autopsien durchgeführt werden. Autopsien haben in Deutschland klar aufgezeigt, dass die Anzahl der offiziell gemeldeten Corona-Todesfälle bis zu 25% zu hoch waren (z.B. Prof. Püschel, Hamburg). Man sollte nun dringend dazu übergehen, wenn immer möglich bei allen nachgewiesenen Corona-Fällen Autopsien durchzuführen und damit eine korrekte Zahl kausaler Corona-Todesfälle zu veröffentlichen.

 

2. Grundlagen für Medizinstatistik: Bei den schweren Fällen sowie bei Todesfällen sollten zentral, systematisch und einheitlich folgende Kriterien analysiert / erfasst werden: Alter, Geschlecht, Grösse, BMI, Allgemeinzustand, Medikation aktuell/ früher, Vorerkrankungen, Passive Immunisierung ja/ nein, Besonderes (Sport, Ernährung, etc.), Resultat der Autopsie, Einschätzung der Korrelation der Todesursache Covid ja/ nein. So stellt sich etwa die Frage, weshalb einige Spitzensportlerinnen und -sportler besonders schwere Verläufe zeigten und gewisse Medikationen (z.B. eine Klasse Blutdruck senkender Mittel) den Verlauf der Krankheit beeinflussten. Unter Zuhilfenahme digitaler medizinischer Technologien (vgl. Künstliche Intelligenz) können hier möglicherweise relevante Muster erkannt werden, die rasch Eingang in den Therapieplan von akuten Corona Patientinnen und Patienten finden könnten. In diese Überlegungen sind auch mögliche therapeutische Ansätze mit bereits erhältlichen Medikamenten miteinzubeziehen, die ggf. «off-label» eingesetzt werden könnten, womit längere Entwicklungszeiten vermieden würden.

 

3. Tests: Obschon Tests für den Virusnachweis in mehreren Labors in ausreichender Menge vorhanden wären, verbietet das BAG trotz vorhandener Kapazitäten aus unerfindlichen Gründen die Ausweitung der Tests. Nur mit breit angelegten, systematisch durchgeführten Tests kann die hohe Dunkelziffer an leicht erkrankten, asymptomatischen Personen und solchen, die bereits genesen und damit immun sind, bestimmt werden. Oberstes Ziel sollte nicht mehr wie bis anhin eine möglichst tief ausgewiesene (aber in Tat und Wahrheit effektiv viel höhere) Infektionsrate sein, sondern die effektive Infektionsrate zu bestimmen. Damit kann die Immunisierung aktiv und möglichst wenig schädigend gesteuert werden. Leider erweist sich nach Aussagen verschiedener Privatlabors die Robustheit der bisher verfügbaren Antikörpertests als nicht gegeben, sodass bis auf weiteres auf ihre Verwendung verzichtet werden muss. Damit müssen wir uns vorderhand auf den Virusnachweis (Antigentest) beschränken, der zweckmässigerweise zweimal durchzuführen ist: beim Auftreten von Symptomen/ Verdacht einer asymptomatischen Infektion und ca. 2-3 Wochen danach, um das Verschwinden der Viruspartikel zu dokumentieren. Diese Patienten können dann als geheilt und auch ohne Antikörpernachweis als immun betrachtet werden.  Der Bund müsste ein grosses Interesse an der raschen Entwicklung eines validierten Antikörpertests haben und diese Bestrebungen aktiv unterstützen. Mit einer überschaubaren Investition seitens des Bundes könnte zudem eine ausreichende Anzahl von Grundversorgern mit Testgeräten ausgestattet werden, was die Aussagekraft der Tests merklich erhöhen würde. Zudem wäre damit die Schweiz für allfällige zukünftige Virusepidemien besser vorbereitet.

 

4. Breite medizinische Versorgung braucht die Bevölkerung jetzt: Die Horrorprognosen einer tsunamiartigen Überschwemmung der Schweizer Spitäler haben sich zum Glück nicht bewahrheitet: obschon wie oben ausgeführt die Anzahl der kausalen Todesfälle zu hoch rapportiert wird, bewegt sich diese im Bereich einer Grippeepidemie. Derzeit sind knapp die Hälfte der Intensivbetten besetzt, wobei zu bemerken ist, dass auch Patientinnen und Patienten aus Frankreich und Italien importiert wurden. Paradoxerweise sind die Schweizer Spitäler aufgrund der Restriktionen massiv unterbeschäftigt und mussten Kurzarbeit anmelden. Zudem führt die einschüchternde Kommunikation dazu, dass Nicht-Corona Notfälle oft zu spät oder gar nicht ins Spital kommen. Hier sind rasch geeignete Massnahmen zu treffen, um eine breitere medizinische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten und Folgeschäden zu vermeiden.

 

5. Exit Strategie: Bei der Exit Strategie aus dem Lockdown, welcher aufgrund ihrer Planlosigkeit an die Vogel-Strauss-Methode erinnert, sollte das BAG rationale Überlegungen einbringen und machbare Strategien erarbeiten. Statt sich von nicht-medizinischen Wissenschaftlern leiten zu lassen, welche Weltuntergangszenarien prognostizierten, jedoch die Zahlen inzwischen mehrfach nach unten korrigieren mussten, wären praktische Pläne in Zusammenarbeit mit Ärzten, Labors und anderen wichtigen Stakeholder sinnvoller. Als Beispiel einer äusserst effektiven und rasch umsetzbaren Massnahme wäre ein zentral erarbeiteter Plan zum Schutz von Pflege- und Altersheimen sinnvoll. Hier könnten mit klaren Vorgaben und umsetzbaren Massnahmen (vgl. Schutzkleidung, Einsatzpläne, regelmässige Tests) viele Leben geschützt werden!

 

6.      Wurzelbekämpfung: Der Bundesrat muss zur Kenntnis nehmen, dass der Schweiz realistischerweise nur zwei Optionen offen stehen, um das Problem an der Wurzel zu bekämpfen: entweder man impft die Bevölkerung oder sorgt dafür, dass ca. 60-70% der Bevölkerung rasch und kontrolliert immunisiert und damit dem Virus der Boden für sein Überleben nachhaltig entzogen wird. Es ist naiv, zu glauben, mit der gegenwärtigen Eindämmungsstrategie solange fortfahren zu können, bis ein Impfstoff erhältlich sein wird. Ein solcher wird wahrscheinlich frühestens in 12-18 Monaten auf den Markt kommen. Für den grössten Teil der Bevölkerung verläuft die Corona-Infektion asymptomatisch oder harmlos, weshalb diese Personen ohne Bedenken immunisiert und danach voll in den Arbeitsprozess integriert werden können. Dies hätte gerade für Spitäler und Altersheime den Vorteil, über immunisierte Fachkräfte zu verfügen und damit das Risiko von Infektionen massiv zu senken. Es bringt nichts, wie heute leider praktiziert, die Anzahl Neuinfizierter als Benchmark für Entscheide zu nehmen: Solange ein Immunisierungsgrad von 70% nicht erreicht ist, steigt die Anzahl Infizierter stetig an, wobei die Steilheit der Kurve vom Ausmass der Tests abhängt. Die vom BAG kommunizierte «Abflachung der Kurve» hat demnach weniger mit der Eindämmung als vielmehr mit der kleinen Zahl von Tests zu tun. Die Dunkelziffer an Infizierten respektive bereits Genesenen und damit Immunen ist riesig. Künftig müsste daher beim Monitoring der Situation neben den Kapazitäten von Intensivbetten die Anzahl immunisierter Personen klar im Vordergrund stehen. Dies würde auch das Vertrauen der Bevölkerung steigern, indem aufgezeigt werden kann, dass sich die Situation verbessert.

 

7. Kommunikation: Aufgrund der Horrorbotschaften sind viele Leute verunsichert  und gar teilweise in Panik. Folgen davon sind unter anderem abgebrochene oder unterlassene Therapien bei anderen Krankheiten, Depressionen und Stress, Aggressivität und Vereinsamung. Die Massnahmen sind daher gut zu erklären und zu begründen, um Ängste wirksam abzubauen und schleichend zu einer neuen Form von Normalität zurück zu finden. Hierzu kann auch die breitere Testung beitragen: höhere Infektionsraten sind nicht per se negativ zu werten und die Anzahl immuner Personen steigt stetig.

 

Es bleibt zu hoffen, dass der Bundesrat sich doch noch von ärztlichen Experten beraten lässt und zu einem Mittelweg im Umgang mit dem Coronavirus findet, wie ihn Schweden derzeit mit Erfolg praktiziert. Unter Einhaltung der bereits etablierten Hygienemassnahmen und unter Einbezug digitaler Technologien (z.B. social tracking) und möglichweise einer noch zu definierenden Maskentragpflicht können Lockerungen zeitnah für alle Bevölkerungsschichten zu einem wichtigen Schritt zurück in die Normalität führen.

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